Reden der AIHD/iL bei der Demo „Die Krise an der Wurzel packen!“

An die 200 Menschen versammelten sich am 30. April 2021 an der Stadtbücherei Heidelberg, um gemeinsam unter dem Motto „Die Krise an der Wurzel packen! Solidarisch gegen Staat und Kapital!“ auf die Straße zu gehen. Außer Reden der AIHD/iL gab es bei der Auftaktkundgebung Beiträge des Feministischen Bündnisses Heidelberg und der Soligruppe fytíli (ΦΥΤΙΛΙ – Docht). Lautstark bewegte sich der Demozug in die Altstadt, wo bei der Abschlusskundgebung auf dem Uniplatz Vertreter*innen von ZeroCovid Mannheim und ISO Rhein-Neckar sprachen sowie der Kurzaufruf der VVN-BdA Mannheim zur Demo am 8. Mai verlesen wurde.
Die beiden Beiträge der AIHD/iL dokumentieren wir hier.

Liebe Genoss*innen, liebe Freund*innen,

der Corona-Virus zeigt einmal mehr, dass Gesundheit im Kapitalismus eng mit der sozialen Lage verknüpft ist. Zu Beginn der Pandemie waren noch reichere Menschen überdurchschnittlich infiziert. Durch die Vielzahl an dienstlichen und privaten Reisen halfen sie dem Virus zu einer schnelleren Verbreitung über den Kontinent – der so genannte Ischgl-Effekt. Mit Einsetzen der ersten Maßnahmen fand jedoch schnell eine Umkehr der Lage statt. Während die einen problemlos von Zuhause aus arbeiten können und insgesamt weniger auf den öffentlichen Raum angewiesen sind, sind die meisten prekär Beschäftigten an ihren Arbeitsplatz gebunden und leben in beengten Wohnverhältnissen. Wie unzureichend der Gesundheitsschutz bei Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor durchgeführt wurde, war in der breiten Öffentlichkeit nur Thema bei besonders miesen Fällen wie bei Tönnies und der restlichen Fleischindustrie.
Nach einem Jahr hat es die kapitalistische Ordnung in Deutschland vollends geschafft, den Pandemieverlauf in Bahnen entlang der Herrschaftsstruktur der Gesellschaft zu lenken. Laut RKI ist die Sterblichkeitsrate von sozial Benachteiligten bei einer Corona-Erkrankung um 50 bis 70 Prozent höher als bei höheren Schichten. Laut AOK ist das Risiko von ALG-II-Bezieher*innen, wegen einer Infektion ins Krankenhaus zu müssen, um 84 Prozent höher. Die Barmer hat festgestellt, dass Leiharbeiter*innen deutlich öfter erkranken und dreimal häufiger ins Krankenhaus müssen als der Durchschnitt. Entsprechend zeigt ein Blick auf die Infektionszahlen von Städten mit hohen Inzidenzwerten, dass der Kapitalismus die Krise ist und nicht das Virus: Während in den Stadtteilen, wo die wohnen, die dem Virus ausgesetzt sind und die Last zu tragen haben, die Inzidenz teilweise bei über 500 liegt, ist sie in den Stadtteilen, wo die Profiteur*innen der Krise wohnen, die andere das Risiko für sich aufnehmen lassen können, teilweise bei 0.
All das hat natürlich nicht ausschließlich mit dem Corona-Virus zu tun, sondern hängt auch damit zusammen, dass die Ausgebeuteten in unserer Gesellschaft immer schon unter krankmachenden bis tödlichen Bedingungen leben und arbeiten müssen. So verwundert es schon gar nicht mehr, dass der Staat den Krisengewinnler*innen von Amazon es zusätzlich ermöglicht, ihren Beschäftigten zu verbieten, FFP2-Masken zu tragen, damit die maximal mögliche Ausbeutung der Menschen nicht durch die verpflichtenden kurzen Pausen beim Tragen der sichereren Masken beeinträchtigt wird. Und während vor einem Jahr noch eine kurze Panik durch die elitären Bio-Küchen Deutschlands huschte, ob denn wirklich nur wegen einer Pandemie das jährliche Spargel-Dinner ausfallen müsse, beschloss der Bundestag jüngst, dass Erntehelfer*innen ab sofort 102 statt der bisherigen 70 Tage ohne Krankenversicherung in Deutschland arbeiten dürfen – inmitten der Pandemie und selbstverständlich ohne jegliche Anforderungen an Infektionsschutz bei der Unterbringung oder bei der Arbeit.
Nicht nur die egoistischen bis faschistischen Schwurbler*innen, die Angst um ihre Privilegien haben, auch der bundesdeutsche Diskurs versuchen, anstatt zu benennen, wer unter der Krise leidet und wer gewinnt, den Pandemieverlauf den Schwachen in die Schuhe zu schieben. Während die einen antisemitische Verschwörungserzählungen heranziehen und Risikogruppen für Ihren Lifestyle-Erhalt opfern wollen, versuchen die anderen, Tatsachen wie, dass auf Intensivbetten überdurchschnittlich viele migrantische Menschen landen, umzudeuten. So wird den erkrankten Menschen dann nicht nur eigenes Verschulden daran vorgeworfen, sondern zudem wird impliziert, sie würden den Pandemieverlauf in der Gesellschaft antreiben. Selbst sonst verharmlosende Stimmen wie die der AfD finden die Seuche dann plötzlich doch gefährlich, wenn sie sie für ihre menschenverachtende Rhetorik nutzen können. Dass die rassistische Strukturierung der Gesellschaft, die überproportional viele migrantische Menschen zwingt, im Niedriglohnsektor zu arbeiten, und dass damit der Virus auch entlang der rassistischen Herrschaftsstrukturen wütet, wird lieber nicht erwähnt.
Quer durch die Klassen sind es jedoch weiterhin die Frauen, die innerhalb der unterschiedlich privilegierten Subsysteme noch weiteren Benachteiligungen ausgesetzt sind. Meist sind sie es, die die zusätzliche Care-Arbeit zu stemmen haben. Doppelbelastung und das Risiko, den Job zu verlieren, treffen sie meistens härter als die Männer in der gleichen sozialen Lage. Die angespannte Situation führt außerdem zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt. Trotz der zahlreichen Hilferufe von diversen Organisationen sind die betroffenen Frauen den gewalttätigen Verhältnissen weitestgehend ausgeliefert. Auch das Patriarchat wird also durch die Krise gefestigt.

Eine Pandemie kann nur global bekämpft werden, aber die Interessen der Staaten sind offensichtlich andere: Die Impfstoffe, die ohne öffentlich finanzierte Forschung gar nicht möglich wären, werden durch Patentrecht in die Hände der Pharmakonzerne gegeben. Zudem treten die Staaten dann global als Schutzmacht für das eigene Kapitalinteresse auf und versuchen, den Impfstoffen von Pharmakonzernen anderer Länder Nachteile im Kampf um Profit zu schaffen. Dieser geopolitisch ausgerichtete Wettbewerb betrifft natürlich nur die profitablen Absatzmärkte. Der globale Süden hingegen wird dem Virus ausgeliefert.

Es ist also klar: Die getroffenen Maßnahmen sind nur ein Brennglas der herrschenden Verhältnisse. Die kommenden medizinischen und sozialen Folgen werden zu Lasten der Geknechteten gehen, während anderswo die Dividenden fließen. Corona heißt der Virus – die Krise heißt Kapitalismus. Ein solidarischer Ausgang aus der Krise kann daher kein Zurück zum Davor, sondern muss ein Umsturz der bestehenden Verhältnisse sein. Wir lassen uns nicht vor die Wahl zwischen mörderischer entfesselter Wirtschaft und autoritärem Staat stellen. Statt autoritären Pseudomaßnahmen wie Ausgangssperren müssen bei voller Lohnfortzahlung so lange sämtliche nicht notwendigen Betriebe geschlossen werden, bis der Virus ausreichend eingedämmt und die Gesellschaft ausreichend geimpft ist. Close factories not parks!
Die Lager an den europäischen Außengrenzen müssen sofort aufgelöst werden, und die Menschen müssen dezentral untergebracht und die Hotels für Wohnungslose und Schutzsuchende geöffnet werden. Leave no one behind!
Das Geld, das in den Schulen zum Pandemieschutz fehlt, muss von den Rüstungsausgaben genommen werden!
Es braucht eine globale Strategie im Umgang mit dem Virus, dessen erster Schritt sein muss, die Pharmakonzerne zu enteignen!
Staatliche Hilfsgelder müssen bei denjenigen ankommen, die die Drecksarbeit machen und deren Existenz bedroht ist. Das Geld muss von denjenigen genommen werden, die aus der Pandemie Profite schlagen. Make the rich pay for Covid-19!
Die kapitalistischen Verhältnisse machen krank – packen wir die Krise an der Wurzel!
Wir wünschen allen morgen einen kämpferischen Ersten Mai – hoch die internationale Solidarität!

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Dass unsere Demo heute stattfindet, ist kein Zufall:
Das von völkisch-nationalistischer und frauenfeindlicher Ideologie geprägte burschenschaftliche „Maiansingen“, das in jeder Nacht zum jeweiligen 1. Mai die Heidelberger Altstadt so lange geprägt hatte, regte sich ein seit den 1980er Jahren permanent breiter und entschlossener werdender antifaschistischer Widerstand, so dass dieser periodisch wiederkehrende Fackelmarsch rechter Verbindungsstudenten bald nur noch unter erheblichem Polizeischutz realisierbar war und schließlich aus der Innenstadt verlagert werden musste. 1997 gelang es erstmals, dieses reaktionär-misogyne Burschentreiben zu verhindern, als sich nach einer Demonstration der Autonomen Antifa Heidelberg etwa 1000 Antifaschist*innen auf dem Marktplatz versammelten und ihn dadurch als Fackelmarsch-Abschlussort verunmöglichten. Die Verbindungen ließen sich nicht blicken.
Seither ist es jedes Mal aufs Neue gelungen, nicht nur die reaktionäre Tradition der Burschenschaften zu brechen, sondern auch den dadurch frei werdenden öffentlichen Raum mit linken Inhalten zu besetzen, wie die gut besuchten antifaschistischen Straßenfeste der letzten Jahrzehnte zeigen. Antifaschistisch aktiv zu sein heißt dabei für uns nicht nur, gegen Faschist*innen auf die Straße zu gehen, sondern auch, eine radikale Gesellschaftskritik zu entwickeln und die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.
In den vorangegangenen Jahrzehnten konnte die AIHD, die seit 1999 gemeinsam mit befreundeten Gruppen das Antifaschistische Straßenfest am 30. April veranstaltet, immer genau daran anknüpfen: Jede „Walpurgisnacht“ wurde unter dem Motto „Altstadt links! Zusammen kämpfen – zusammen feiern“ und unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten zu einem antifaschistischen Aktionstag, der bis zu 800 Unterstützer*innen anzog.
Eine extreme Zäsur bildete das Jahr 2020, und das Antifaschistische Straßenfest auf dem Universitätsplatz Heidelberg musste pandemiebedingt zum ersten Mal seit 22 Jahren abgesagt werden. Mitten im ersten Lockdown wäre es absolut unverantwortlich gewesen, mit hunderten Menschen dichtgedrängt auf dem Uniplatz zu feiern.
Und 2021? Auch da war es frühzeitig offensichtlich, dass es kein Fest im klassischen Format auf dem Uniplatz geben könne, um mit politischen Beiträgen und Livebands „die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen“. Aber trotzdem werden wir uns den 30.4. als antifaschistischen Aktionstag, an dem wir radikale Gesellschaftskritik forcieren und gemeinsam in der Innenstadt sichtbar machen, nicht nehmen lassen, und ziehen 2021 zum vierten Mal nach 1997, 1999 und 2007 mit einer lautstarken Demonstration durch Heidelberg.
Wir wollen dabei an unsere letztjährige Kampagne „Solidarisch aus der Krise“ anknüpfen, die mit einer Antifa-Kundgebung am 29. August 2020 auf dem Uniplatz ihren Höhepunkt hatte. Als systemantagonistische Gruppe sahen wir uns vor fast einem Jahr „einer extremen Krise in allen Bereichen, sich zuspitzenden sozialen Konflikten und einem sicherheitsstaatlich durchgesetzten Klassenkampf von oben gegenüber“. Unter den Schlagworten „Vergesellschaften statt Kapitalismus“, „Echte Solidarität ist gefragt“ und „Die Krise hat System“ entwickelten wir vor fast einem Dreivierteljahr eine antikapitalistische, antistaatliche Positionierung, die wir jetzt nochmals zuspitzen wollen. Denn geändert hat sich nichts.
Im Gegenteil: Wir müssen seit einem Jahr erleben, wie sich verschiedene verschwörungserzählende, esoterische, antisemitische, rechtsreaktionäre, neonazistische Corona-Leugner*innen, Maskenverweiger*innen und Impf-Ablehner*innen ohne jegliche Berührungsängste zusammen zu einer diskurs- und hegemoniefähigen sozialen Bewegung mausern, die die Sicherheitskräfte und die Justiz vor sich hertreibt und massenhaft auftritt; unter Zuhilfenahme der abstrusesten Versatzstücke aus einem unerschöpflichen Ideologie-Reservoir. Dass dabei auch Ideologeme verwendet werden, die in bewusst verkürzter Form entweder als „anti-autoritär“ beziehungsweise „anti-diktatorisch“ oder „anti-kapitalistisch“ verkauft werden, macht es für uns als radikale Linke nicht einfacher, sondern eher schwieriger. Wir müssen nun an diesen Leer-Denker*innen vorbei unsere Begriffe von „Solidarität“, von „Emanzipation“, von „Antistaatlichkeit“, von „Antikapitalismus“ so formulieren, dass sie nicht mit den ihren gleichgesetzt werden können – weder historisch noch theoretisch noch praktisch noch konkret-utopisch. Das gelingt uns nur, wenn wir Staat und Kapital konsequent zu überwinden versuchen und bei dieser materialistisch-analytischen Aufhebungsperspektive zu einem kollektiven Ausdruck von emanzipatorischem, solidarischem Miteinander und von gegenseitiger Unterstützung und Hilfe finden. Weder wollen die nun so laut (auf)schreienden Corona-Leugner*innen, Maskenverweiger*innen und Impf-Ablehner*innen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse grundlegend umkrempeln oder die im Krisenverwaltungsmodus steckengebliebene Repräsentativdemokratie vom brüchig gewordenen Sockel stürzen – noch will das derzeit herrschende System regulativ von ihrer primären Funktion – der verstetigten Wiederherstellung des ausbeuterischen Status Quo – abrücken. Deshalb müssen wir darauf hinweisen, dass diese verstetigte Wiederherstellung des ausbeuterischen Status Quo, an der die Leer-Denker*innen niemals fundamentale Kritik zu üben wagten, nur mit drastischen Kürzungen im sozialen Bereich gegenfinanziert werden kann, und dass sie im Endeffekt den systematischen Abbau von Grundrechten, die Militarisierung im Inneren, den Ausnahmezustand, die zunehmende Infragestellung grundlegender Arbeitsrechte, gewaltige Rückschritte bei den erkämpften Errungenschaften der feministischen Bewegung, die zunehmende Ausgrenzung von Migrant*innen und die Aufkündigung von Minimalzielen in anderen Bereichen wie dem Klimaschutz bedeutet.
Indem wir die Krise an der Wurzel packen, können linke Sichtweisen auf die Pandemie wieder zusammenkommen, und denjenigen eine tatsächlich revolutionäre Perspektive bieten, für die auch schon zuvor gekämpft wurde, und auf die auch diese Krise des Kapitalismus abgewälzt wird.
Geht deshalb am Abend vor dem 1. Mai mit uns auf die Straße:
Packen wir die Krise an der Wurzel.
Seien wir solidarisch gegen Staat und Kapital.

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