Rede beim Gedenken an das Massaker von Utøya

Am 22. Juli 2023 fand eine Gedenkveranstaltung an die Ermordeten des Nazi-Terroranschlags von Utøya statt, bei der wir als AIHD/iL einen Redebeitrag hielten:

Liebe Genoss*innen,

am 22. Juli 2011, heute vor zwölf Jahren, ermordete der rechte Attentäter Anders Breivik 77 Menschen. Nach der Zündung der Autobombe im Zentrum von Oslo, bei der acht Menschen getötet und zehn weitere verletzt wurden, fuhr Breivik zu einem Sommercamp der Jugendorganisation der Arbeiderpartiet, der norwegischen Sozialdemokrat*innen, auf der Insel Utøya. Hier erschoß er 69 Menschen, die meisten davon jugendliche Teilnehmer*innen des Sommercamps, während eines über einstündigen Massakers. Die jüngsten Opfer waren vierzehn Jahre alt.
Breivik begleitete seine Tat mit einer groß angelegten Selbstinszenierung als „Widerstandskämpfer“, er versendete Propagandamaterial an die Presse und postete Bilder, die ihn als Tempelritter zeigen, der heroisch das Abendland gegen den Feind verteidigt. Sein so genanntes Manifest, das er vor der Tat durch die sozialen Medien jagte, ist eine Sammlung aus eigenen Texten und denen vieler einschlägig bekannter rechter Blogger und rassistischer „Vordenker“. Es stützt sich ideologisch auf Frauenhass, Rassismus, Auserwähltheitswahn und den unbedingten Willen, den herbeigesehnten Krieg gegen Einwanderer*innen und angebliche „politische Korrektheit“ endlich umzusetzen – und zwar gezielt als Auftakt und Vorbild für andere.
Auch die Auswahl seiner Opfer auf der Insel – politisch aktive Jugendliche – war nicht zufällig, sondern verfolgte den Zweck, Gegner*innen gezielt und frühzeitig auszuschalten – und Gegner*in war für ihn jede*r, die*der sich seinem Konzept der weißen Überlegenheit in Europa in irgendeiner Form entgegenstellt.
Die Bezüge auf internationale rechte Netzwerke sind dabei alles andere als zufällig. Wir finden sie bei etlichen anderen Tätern, unter anderem dem Attentäter von Hanau, dem Attentäter von Christchurch und dem Attentäter von München 2016 – der seine Tat aus ideologischen Gründen genau am fünften Jahrestag der Morde von Utøya beging.
Werfen wir einen Blick darauf, wie das Attentat von Breivik in Gesellschaft, Presse und Politik rezipiert wurde (Parallelen zu ähnlichen Fällen auch hier in der BRD sind dabei nicht zufällig).
Noch während des Attentats selber wurde in Live-Nachrichtensendungen darüber gesprochen, warum Norwegen jetzt Ziel eines islamistischen Anschlags wurde und was die norwegische Migrationspolitik damit zu habe. Als der Täter zweifelsfrei feststand, wurde ohne jeden Bruch dazu übergegangen, die psychisch auffälligen Seiten von Breivik prominent hervorzuheben. Ein Einheimischer, ein Norweger, der so etwas tut, ist krank, ein Verrückter, ein Einzeltäter. Ein paar Beispiele: Vier Tage nach der Tat wurde ihm bescheinigt, er sei „losgekoppelt von der Umwelt, deren Produkt er ist.“ Ausführlich diskutiert wurden auch „verdeckte Homosexualität“, die „Promiskuität seiner Mutter“, und der Autor eines Buches über ihn beschreibt ihn als „bereits als Fötus abnorm, der seine Mutter durch Tritte verletzen wollte“. Es wurde so ziemlich alles zur Erklärung herangezogen, nur eines fast nie: dass der Täter zur Durchsetzung seiner politischen Ziele mordete, und dass er aus gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen heraus handelt, auch dann, wenn er seine Taten nicht mit anderen zusammen geplant und durchgeführt hat.
Täter wie Breivik sind nicht alleine, sie sind keine Einzeltäter. Sie wissen sich als Teil einer ideologischen Gemeinschaft und fühlen sich als Vollstrecker eines Willens, den viele mit ihnen teilen. Wir alle kennen das Dauerfeuer der rechten und rassistischen Erzählungen, die Erzählungen von angeblichem Widerstand gegen Bevölkerungsaustausch, die Sprüche von „Migration als Mutter aller Probleme“ und all das. Wir kennen auch die „Lösungsansätze“, den angeblich „besorgten Bürgern“ „gut zuhören“ zu wollen und ihnen damit doch nur eine Legitimation zu verschaffen, statt ihnen entgegenzutreten. Kurz gesagt: Formal mag es Unterschiede geben zwischen dem, was ein Hans-Georg Maaßen, Ex-„Verfassungsschützer“ von der CDU, tagtäglich twittert, und dem, was ein Breivik in sein Manifest schrieb – inhaltlich gibt es sie nicht.
Statt einem Erkennen der Lage erleben wir von weiten Teilen der Politik und des Staates eine immer schriller werdende Bullshitting-Orgie, in der Klimaaktivist*innen als Terrorist*innen bezeichnet werden und bereits vor der Entstehung einer „Klima-RAF“ gewarnt wird. Selbst die Protagonist*innen, die sich nicht ganz so offensiv daran beteiligen, verkennen die Lage und ziehen sich, wie Innenministerin Nancy Faeser, auf die frei erfundene Geheimdienstlegende einer per se guten, quasi natürlich demokratischen Mitte zurück, die vor „extremistischen Rändern“ aller möglichen Spektren geschützt gehört.
Soweit zum Status quo.
Was können wir tun?
Wir können weitermachen – damit, dass wir immer wieder benennen, was ist.
Wir können uns organisieren und aktiv werden.
Wir können uns mit unterschiedlichen Mitteln gegen die genannten Verhältnisse stemmen und gegen ihre Wortführer*innen und Protagonist*innen.
Wir können uns nicht einwickeln lassen von Exremismusgerede, wir können uns vernetzen, uns vertrauen und uns vor allem nicht spalten lassen.
Und wir können vor allem eines verstehen: dass es keine offiziellen Institutionen gibt, an die wir den Kampf gegen die Breiviks dieser Welt einfach auslagern können, sondern dass wir es sind, die aktiv werden müssen – nicht zuletzt dadurch, dass wir nicht vergessen, dass wir etwas anderes wollen – und dass wir nicht alleine damit sind.
In diesem Sinne: Lasst uns weitermachen!

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