Noch immer kein Prozess wegen antisemitischem Angriff bei der Normannia

Auch nach über einem Jahr kam es bisher noch nicht zu einem Prozess gegen die sechs angeklagten Burschenschafter, von denen zwei zum Tatzeitpunkt der „Burschenschaft Normannia zu Heidelberg“ angehörten, die bei einem von rund 30 Personen besuchten Stiftungsfest auf dem Haus der Normannia ein zuvor mitfeierndes Mitglied unter antisemitischem Kampfgebrüll zunächst mit Geldmünzen beworfen und dann mit Gürteln verprügelt hatten. Die Untätigkeit der Staatsanwaltschaft und das abflauende mediale Interesse nehmen wir als Anlass, noch einmal deutlich auf den Fall und seine Umstände hinzuweisen.

Wir haben euch nicht vergessen!
Viele, die das von uns an die Öffentlichkeit gebrachte Geschehen um die faschistische Kaderschmiede am Kurzen Buckel 7 mit sorgenvollem Interesse verfolgten, werden sich mittlerweile in zufriedenstellender Genugtuung wähnen: Endlich räumt der demokratische Rechtsstaat konsequent auf mit rechten Schlägern, die einen anderen Verbindungsstudenten schwer verletzt haben.

Wir sehen das anders.
Durch die Trägheit oder möglicherweise sogar den Unwillen der Staatsanwaltschaft, einen Prozesstermin anzusetzen, können wir bei eindringlicher Betrachtung des Falls die bedenkliche Funktionsweise der Repressionsorgane demonstrieren, die sich an der selbsternannten „Elite der Nation“ lieber nicht die Finger verbrennen wollen. Durch die sogenannten Seilschaften, bei denen alte und neue Burschen gegenseitig ihr berufliches Vorankommen begünstigen, ist auch nie auszuschließen, dass etwa ein Polizeikommissar oder ein Richter unbemerkt eine schützende Hand über seine „Waffenbrüder“ hält.

Treffpunkt für die extreme Rechte
Die Normannia-Männer-WG in allerbester städtischer Lage unterhalb des Heidelberger Schlosses fungierte seit Jahrzehnten als Treffpunkt der regionalen und überregionalen Nazi-Szene. Dass dort rechte Netzwerke geknüpft, menschenverachtende Aktionen geplant, faschistische Vorträge gehalten und beim gemeinsamen Saufen Hitlergrüße zelebriert wurden, wissen wir schon sehr lange; Zeugnisse hiervon stehen durch die Veröffentlichungen antifaschistischer Recherchen zur Verfügung.
Dass aber Informationen über strafrechtlich relevante Vorgänge auf dem Burschenhaus (oder direkt von ihm ausgehend) behördlich zurückgehalten werden, obwohl es sich dabei offensichtlich um antisemitisch motivierte Hassgewalt gehandelt hatte, deren Thematisierung allein schon zur Erfüllung der offiziellen Arbeitsanordnung an den baden-württembergischen Antisemitismusbeauftragten lanciert werden muss, wissen wir in dieser Form erst seit September 2020.

War da was?
Nach Meldungen der Staatsanwaltschaft oder Polizei (die ansonsten jeden noch so kleinen Vorgang in ihren „Berichten“ verarbeitet) suchten antifaschistische Gruppierungen, denen die Normannia-Vorfälle bekannt waren, zunächst vergebens; hätten sie sich nicht an die Öffentlichkeit gewandt mit dem Verbreiten von burschenschaftsinternen Informationen, die weitreichend bereitgestellt und auf ihren Wahrheitsgehalt hin verifiziert worden waren, dann hätte sich die Staatsanwaltschaft Heidelberg möglichweise überhaupt nicht in der Pflicht gesehen, etwas zu den schockierenden Vorfällen herauszugeben. Dies wäre ganz im Interesse der Burschen gewesen, die Fälle wie diesen immer intern geregelt haben.
Dann wäre es uns auch dieses Mal genauso ergangen wie mit einem anderen Vorfall, der sich am 1. Mai 2019 in Heidelberg zugetragen hatte: An diesem Tag hat es in der Altstadt eine verbale und körperliche Auseinandersetzung zwischen Normannen und Mitgliedern der „nichtschlagenden, nichtfarbentragenden Studentenverbindung Rupertia“ gegeben. Schließlich griffen Normannen, die vorher in der Altstadt zur „Charakterisierung“ der Ruperten bereits mit antisemitischen Beschimpfungen um sich geschmissen hatten, das Haus der Rupertia an und verletzten dabei einen der dort anwesenden Verbindungsstudenten schwer. Obwohl vonseiten der Rupertia u.a. Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung gestellt wurde, berichtete die ermittlungsführend damit beauftragte Staatsanwaltschaft Heidelberg nicht. Obwohl es sich um eine zumindest antisemitisch „orchestrierte“ Körperverletzung handelte, kam nichts an die Oberfläche. Obwohl laut RNZ ein Normanne hierfür am 22. Juni 2020 vom Amtsgericht Heidelberg verurteilt worden sein soll, erfuhren die Bürger*innen nichts hierüber. Obwohl auch noch Ermittlungen wegen des Zeigens des Hitlergrußes (durch Normannen) liefen, gab es keine zugänglichen Informationen über vom Normannenhaus aus losgezogene Akteure männerbündischer, rechter Gewalt.
Erst antifaschistische Öffentlichkeitsarbeit (im September 2020) hat die Staatsanwaltschaft dazu bewegt, die Aufnahme von Ermittlungsverfahren per Pressemitteilung bekanntzugeben (Gemeinsame Presseerklärung der Staatsanwaltschaft Heidelberg und des Polizeipräsidiums Mannheim vom 08.09.2020); die Staatsanwaltschaft war sich hierbei auch nicht zu schade, die von burschenschaftlichen Faschisten frei erfundene „Gürtelung“ als „gängiges Ritual“ auf Verbindungshäusern zu klassifizieren und die gefährliche Körperverletzung dadurch als gegenseitig vereinbarte Vollführung einer freiwilligen Herr-Knecht-Züchtigung darzustellen – sehr zur Freude der Verbindungsstudenten natürlich. (Urheber des „Gürtelungs“-Fakes bei Wikipedia war der Neonazi-Funktionär Norbert Weidner.)

Scheinheilige Distanzierungen von Nazi-Traditionen
Wir sind des Umstands überdrüssig, immer wieder darauf hinweisen zu müssen, dass die an der Elite-Universität Heidelberg eingeschriebenen, zur „Aktivitas“ zusammengeschweißten (und mittlerweile zum Schein aufgelösten) Normannen Neonazis sind, die mit dem ritualisierten und mehrfach dokumentierten Zeigen des Hitlergrußes „intern“ (in den Räumen der „Villa Stückgarten“) oder „offen“ (hausextern) ihre NS-Verherrlichung zur Schau stellen, sie in „Ruhm und Ehre“ zelebrieren. Damit bringen sie auch bewusst, unmissverständlich, stolz zum Ausdruck, dass sie einem System und Gesetz gewordenen eliminatorischen Antisemitismus nacheifern – komme, was wolle.

Und trotzdem durften älter gewordene Normannen während der Diskussionen um die Vorfälle im Haus das von der bürgerlichen Presse dankbar aufgenommene Diktum herausgeben: „Die Burschenschaft Normannia duldet keinen Antisemitismus in ihren Reihen oder durch Dritte auf ihrem Haus. Antisemitismus und gewalttätige Übergriffe sind mit dem burschenschaftlichen Gedanken nicht zu vereinbaren.“ Obwohl einer der Normannen, der diese reine Schutzbehauptung (vor Strafverfolgung) hat „diktieren“ lassen, selbst in der Villa war, als Antisemitismus in Demütigung, Herabwürdigung und gefährliche Körperverletzung umschlug und so seit jeher auf dem Haus vermittelte Ideologie in die Tat der anwesenden Gruppe umgesetzt wurde.

Auch über diverse hausinterne Schulungen oder Rezeptionsangebote in Richtung NS-Verherrlichung und antisemitisch aufgeladenen Weltverschwörungsnarrativen ist die Öffentlichkeit und damit eigentlich auch die Staatsanwaltschaft informiert; hier nochmals ein paar „Highlights“ der letzten 28 Jahre:

1993: „Wir müssen uns nicht schämen, Deutsche zu sein, und wir wollen nicht mehr vor Juden buckeln“, so ein Sprecher der Normannia in der Heidelberger Studierendenzeitung „Ruprecht“.
2000: Die Aktivitas der Normannia verteilt Flugblätter, in denen gegen das „jüdische Finanzkapital“ gehetzt wird. Ursprünglich entstammen die Texte der antisemitischen Nazipostille „Unabhängige Nachrichten“.
22.03.2003: Auf einer Antikriegsdemonstration macht die Normannia Stimmung gegen die USA und deren angebliche „Hintergrundmächte“, womit eine „jüdische Weltverschwörung“ gemeint ist.
11.11.2003: Mitglieder der Normannia verteilen an der Universität die antisemitische Skandalrede des damaligen CDU-Politikers Martin Hohmann (heute AfD)
17.04.2013: Der ehemalige „Generalobere“ der zutiefst antisemitischen Piusbruderschaft, Franz Schmidberger, referiert auf dem Haus der Normannia.
06.06.2018: Der evangelikal-faschistische AfD-Politiker Malte Kaufmann, der zuletzt im Mai 2021 in Stuttgart-Bad Cannstatt vor Faschisten des „III. Wegs“, der NPD und der „Identitären Bewegung“ eine Rede gehalten hat, schwadroniert im Haus der Normannia zum Thema „Wirtschafts- und Europapolitik aus christlichem Blickwinkel“.

Soweit nichts Neues
Die „Burschenschaft Normannia zu Heidelberg“ selbst hat nie einen Hehl aus ihrem Antisemitismus gemacht; warum sollte sie? An anderer Stelle haben wir geschrieben: „Als kontinuierliches Motiv zieht sich durch die Geschichte der Normannia Heidelberg ein fanatischer Antisemitismus. Auch eigentlich unvereinbare Positionen sind bei den Veranstaltungen der Normannia willkommen, solange sie diesem zentralen Anliegen dienen: Ob neonazistische Holocaustleugner, arabische Antisemiten oder der Generalobere der ultrakatholischen Piusbruderschaft – sie alle werden in den wahnhaften antisemitischen Kosmos der Normannia eingebunden.“ Erst jetzt, wo aus einer ihrer wichtigsten ideologischen Säulen und Politikorientierungspunkte militante Aktionen geworden waren, die – auch juristisch, strafermittlungsbehördlich – wahrgenommen werden mussten und bei denen andere Verbindungsstudenten körperliche (und seelische) Schäden davongetragen hatten, fand von ihr aus eine energische Zurückweisung dessen statt, was sie sonst immer leitmotivisch gelenkt hatte.
Das ist zwar in höchstem Maße abstrus, weil sich die Existenzberechtigung der Normannia sich selbst gegenüber daraus speist, eine „explizit politische und politisch handelnde Vereinigung“ zu sein, die einen völkisch-nationalistischen, misogynen Bund fürs Leben bildet, der bis heute in der „nationalsozialistische[n] Idee … die wahrhaftige und berechtigte Erbin der altburschenschaftlichen Bewegung“ sieht; aber „von außen“ durchaus nachvollziehbar, wenn man bedenkt, welche straf- und vereinsrechtlichen Folgen Verurteilungen wegen „Gefährlicher Körperverletzung“, des „Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ und „Volksverhetzung“ auch für die so genannten Alten Herren haben könnten, die um ihre berufliche Reputation bangen.

Und der Staat?
Aber wie sieht es damit aus, was wir in der Causa Normannia auf staatlicher Seite beobachten mussten? Da wird es komplizierter …
Die Zurückhaltung und Intransparenz der Staatsanwaltschaft hat vor allem zwei Ursachen:
Zum einen können sie kein zivilgesellschaftliches Interesse daran erkennen, über antisemitisch motivierte, im personalen Zusammenschluss durchgeführte Gewalttaten in Kenntnis gesetzt werden zu wollen.
Zum anderen studierten oder studieren einige der Normannen Jura, wollen womöglich selbst in Staatsanwaltschaften drängen und dort Karriere machen; der frühere Bundesinnenminister Manfred Kanther, „Alter Herr“ beim Corps Guestphalia et Suevoborussia Marburg, hat das einmal – repräsentativ für alle Burschenschaften, Studentenverbindungen, Landsmannschaften – auf den Punkt gebracht mit den Worten: „Wir wollen auch weiterhin national gesinnte Menschen in alle führenden Berufe unserer Gesellschaft entsenden.“ – „Staatsanwalt“ (oder „Richter“) ist zweifelsohne ein „führender Beruf“ in dieser klassenstrukturierten Gesellschaft. Staatsanwälte, die zu viel herumwühlen im Milieu, aus dem sich ihre Zunft zusammensetzt oder zusammensetzen könnte, gelten sehr schnell als „Nestbeschmutzer“, die den Corpsgeist verraten.

Der Feind steht links …
Dass sich der rechtskonservative Innenminister Baden-Württembergs, Thomas Strobl, so extrem zurückhält in Sachen Normannia, hat vor allem vier Gründe:
Als oberster Dienstherr aller Polizeien im Bundesland geht es dem CDU-Hardliner zunächst darum, die Antifa-Szene aufzumischen. Nach einem militanten Antifa-Angriff auf organisierte, bewaffnete Neonazi-Kader in Stuttgart-Bad Cannstatt im Mai 2020 hat er verkünden lassen: „Wir kriegen euch alle!“ Damit gemeint waren alle Antifaschist*innen Baden-Württembergs, die in der Wahl ihrer Aktionsformen auch Militanz nicht ausschließen. Es folgten unzählige Hausdurchsuchungen, bisher zwei Festnahmen, und ein Mammutprozess in Stammheim, bei dem ein Parteifreund Strobls als Nebenklägeranwalt für einen der „betroffenen“ Neonazis auftritt. Burschenschaften (als politische Akteure) sind für Strobl vollkommen uninteressant, auch wenn er zufälligerweise „Alter Herr“ jener Landsmannschaft ist, zu welcher der am 29. August 2020 Angegriffene gehört. Was soll´s? Er habe in Heidelberg studiert, sei damals zur Afrania gegangen, ohne viel Aktivismus für sie zu entfalten, und heute bekomme er nichts mehr von „seiner“ Landsmannschaft mit; das sei ja sowieso „etwas Anderes“ als eine Burschenschaft …

… und deshalb wird kräftig nach links geschnüffelt
Strobl, der von Kretschmann protegiert und infolgedessen schon als zukünftiger Ministerpräsident Baden-Württembergs gehandelt wird, ist aber auch Oberster Dienstherr der inlandsgeheimdienstlichen Behörde, die sonst alles beobachtet, was die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ ins Wanken bringen könnte. Das Wort „Burschenschaft“ findet sich im von Strobl herausgegebenen Verfassungsschutzbericht des Landes aber kein einziges Mal. Derzeit werde im Land keine Burschenschaft beobachtet, teilte ein Sprecher der Behörde vor kurzem mit. Die AIHD dagegen wird seit mehr als 22 Jahren beobachtet …
Und die Polizei selbst? Nun, wenn selbst der Antisemitismus-Beauftragte des Landes, Michael Blume, den Dachverband „Deutsche Burschenschaft“, dem auch die Normannia angehört, als durch und durch „rechtsextrem, rassistisch und antisemitisch“ bezeichnet und „endlich die Netzwerke, die in den Staatsdienst reichen bis hin zu Polizei und Justiz“ aufgeklärt haben will, dann dürfte klar sein, warum sie kein allzu überschwängliches Engagement an den Tag legt. Vor allem dann, wenn mit dem CDUler Egon Manz ein (ehemaliger) Polizeifunktionär und Mitglied der „Deutschen Polizeigewerkschaft“ (DPolG) „Alter Herr“ der Normannia war.

Wie geht es weiter?
Wir warten weiter auf einen Prozess und werden diesen, sobald er in Aussicht ist, selbstverständlich aufmerksam verfolgen und begleiten. Achtet hierfür auf Hinweise auf unseren Kanälen. Wir sind uns des Umstands bewusst, dass wir uns mit unserer Öffentlichkeitsarbeit nicht nur bei aktiven und alten Normannen unbeliebt gemacht haben und uns auch die Staatsanwaltschaft aus den genannten Gründen wie bisher nicht freundlich gestimmt sein wird; uns ist vielmehr klar, dass unser Engagment rund um die Prozesse und darüber hinaus weiterhin kriminalisiert und verfolgt wird, egal welche Wege wir dafür wählen. Wie wichtig antifaschistische Arbeit ist, hat dieser Fall als einer von unzählbaren einmal mehr gezeigt. Deshalb unterstützt uns und zeigt den alten und neuen Nazis, dass wir sie immer im Auge behalten. Bleibt wachsam und folgt uns auf unseren Kanälen für Veranstaltungshinweise. Beteiligt euch an Aktionen und sucht den Kontakt zu lokalen antifaschistischen Gruppen.

Ob „arische“ Burschen, rechte Richter oder Nazi-Bullen: Kampf dem Faschismus, immer und überall!
Schließt euch der Antifaschistischen Aktion an!
Für ein Leben in Solidarität und Freiheit!

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