AIB-Interview mit der AIHD: Der „Aufstand der Anständigen“ aus antifaschistischer Sicht

Wir als seit April 1999 existierende AIHD wurden vor einigen Monaten angefragt, für die nun erschienene neue Ausgabe des Antifaschistischen Infoblatts (AIB) ein längeres, auf vier Print-Seiten veranschlagtes Interview abzuliefern. Darin sollten vor allem Fragen danach beantwortet werden, wie unsere antifaschistische Gruppe den so genannten Aufstand der Anständigen vor 20 Jahren „erlebt“ habe.
Da sich die Gruppe damals aber relativ frisch gegründet hatte, nahmen wir das Interview, für das uns viel Platz eingeräumt worden war, zum Anlass, im Kontextualisieren ein bisschen weiter auszuholen und auch jenen Fragen eine (potenzielle) Ausführlichkeit anheimzustellen, deren Beantwortung eine fundierte Einordnung der Vorgeschichte, des politischen Umfelds, aus dem heraus der staatliche „Aufstand der Anständigen“ initiiert wurde, und unserer Reaktionen konzediert.
Nun musste dieses tatsächlich äußerst lang gewordene Interview aber auf zwei Print-Seiten des AIBs heruntergekürzt werden. Dadurch geht selbstverständlich viel vom vermittelten Eindruck verloren; und es wirkt nicht mehr so rund, an einigen Stellen eher „abgehackt“.
Deshalb haben wir uns gedacht, euch hier das komplette Interview in seiner ursprünglich autorisierten, ungekürzten Form zur Verfügung zu stellen.
Wir danken dem AIB, das es uns ermöglicht hat, in seine 127. Ausgabe (Sommer 2020) mit dem Schwerpunkt „Der Antifasommer – 20 Jahre Aufstand der Anständigen“ zu kommen und wünschen uns auch für die nächsten Dekaden eine intensive Zusammenarbeit: Alerta Alerta Antifascista!
Außerdem wollen wir noch positiv anmerken, dass sich dieses stabile Antifa-Magazin ein besonderes Motiv ausgesucht hat, um unser Interview mit ihm mit einem repräsentativen Bild-Element „aufzulockern“: Es zeigt ein Gruppenfoto der Antifaschistischen Initiative Heidelberg aus dem Jahre 2009, das wir zum Feiern unseres zehnjährigen Bestehens u.a. für Soli-Postkarten und Aufkleber verwendeten. Das Lustige dabei: Auf das Motiv ist auf den unteren Bildrand noch unsere alte Homepage-Adresse gedruckt worden; diese stellt aber einen direkten Zusammenhang zum Autonomen Zentrum Heidelberg her, das ja auch im Interview eine durchaus nicht zu vernachlässigende Rolle spielt. Chapeau!
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Die Antifaschistische Initiative Heidelberg im Spannungsfeld zwischen linksradikaler Militanz und dem staatlichen Schmieden von Lichterketten

Der „Aufstand der Anständigen“ vor 20 Jahren

April 1999: Die Antifaschistische Initiative Heidelberg (AIHD) – seit 2015 mit dem Zusatz iL – gründet sich. Vorher hatte es fast sieben Jahre lang die Autonome Antifa Heidelberg gegeben, die zeit ihres Bestehens auf allen Ebenen eng verbunden gewesen war mit dem Autonomen Zentrum, das im Februar 1999 – nach achtjähriger unabhängiger Selbstverwaltung – vor den Augen der radikal linken Aktivist*innen abgerissen wurde. Neben vielem anderen war die Autonome Antifa als offizielle Veranstalterin des ersten Antifaschistischen Straßenfestes „Marktplatz links“ am 30. April 1998 in der Heidelberger Altstadt in markante Erscheinung getreten: Nach jahrzehntelangen, immer intensiver und militanter geführten Auseinandersetzungen um das von faschistischen und nationalkonservativen Burschenschaften in Szene gesetzte, alljährlich zelebrierte „Mai-Ansingen“ auf dem Marktplatz war diesem rechtsreaktionären, männerbündisch-misogynen Treiben in der so genannten Walpurgisnacht 1997 ein nachhaltiges Ende bereitet worden. Der dadurch frei gewordene öffentliche Raum wurde sodann ab 1998 mit autonom-antifaschistischen Inhalten und gegenkulturellen Angeboten ausgefüllt: Das Antifaschistische Straßenfest war installiert. Bereits ein Jahr darauf übernahm die soeben fundamentierte AIHD die organisatorische und praktische Aufgabe der Durchführung dieses Festes, das bis heute jährlich am 30. April ausgerichtet wird und jeweils unterschiedliche inhaltliche und gegenkulturelle Akzentuierungen hat.

Wir haben uns mit zwei Gründungsmitgliedern der AIHD unterhalten, die auch schon in der Autonomen Antifa Heidelberg (1992 – 1999) organisiert gewesen waren. Uns interessierten vor allem die ersten eineinhalb Jahre ihrer Existenz, die in den so genannten Aufstand der Anständigen hineinragten.

AIB: Wo hat sich die AIHD politisch-organisatorisch verortet und was hat sie bis zur Schröderschen Proklamation des „Aufstands der Anständigen“ theoretisch und praktisch auf die Beine gestellt?

 

AIHD: Nach der kräftezehrenden Straßenfestausrichtung 1999 mussten wir im ersten Jahr unseres Bestehens – und genau darum soll es ja zunächst gehen – die Gruppenkonstituierungsphase politisch-organisatorisch ins Verfestigend-Stabile zuspitzen. Auf dieser gestützten Basis hielten wir Ausschau nach Formen der Artikulierbarkeit kollektivistisch entwickelter Theorien und Praxen. Das war anfänglich alles Andere als leicht, schließlich war uns ein großes selbst verwaltetes Zentrum in Innenstadtnähe genommen worden, in dem wir uns zum intensiven internen Gruppenaustausch hätten treffen können. Das musste nun an unterschiedlichen Orten stattfinden.
Da wir uns als Teil einer außerparlamentarischen, sozial bewegten Opposition im neulinken Postoperaismus verorteten, als dessen tragende Säule wir den in der BRD seit Anfang der 1980er Jahre eigenständig konfliktorischen Autonomen Antifaschismus betrachteten (u.a. das „Fanal“ von Fallingbostel, 1983), richteten wir uns aufhebungsperspektivisch folgendermaßen aus:
Als autonom-antifaschistische Gruppe kämpften wir gegen Lohnarbeit, also gegen den in der patriarchalen Warenproduktions- und Wertschöpfungslogik steckenden Verkauf der eigenen Arbeitskräfte.
Wir lehnten etablierte, institutionalisierte Politik-Formen rigoros ab, betrieben also weder eine bestimmte legalistische Partei-Politik noch traditionelle korporatistische Gewerkschaftsarbeit.
Wir erkannten das staatliche Gewaltmonopol und ihren „Träger“ – das Exekutivorgan – nicht an.
Unsere gesellschaftlichen Bedürfnisse eigneten wir uns direkt an, indem wir proletarisch einkauften, kollektiv schwarzfuhren, Häuser, Plätze, Felder besetzten, Mietstreiks mit organisierten, Vergewaltiger entwaffneten.
Wir bauten eine hegemoniefähige Gegenkultur auf, indem wir hierfür Autonome Zentren erkämpften, eigene radikal linke Verlage gründeten, Freie Radios aufbauten, Info-Läden einrichteten (in den selbst verwalteten Freiräumen), alternative Medien an den Start gehen ließen.
Wir griffen das bundesrepublikanische Herrschaftssystem mitsamt seinem exekutiv, judikativ und legislativ modellierten Repressionsapparat und seinen anti-dissidentischen Disziplinierungs-Anstalten an.
Und wir suchten nach einem „Neuen Antiimperialismus“.
AIB: Wie meint ihr das? Was hatte ein „Antiimperialismus“ mit einem oder besser: eurem militanten „Antifaschismus“ zu tun? Und was war „neu“ an ihm?

AIHD: Bereits am 10. Juli 1999 veranstalteten wir in Heidelberg zusammen mit der Antifaschistischen Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO), in die wir kurz nach unserer Gruppengründung aufgenommen worden waren, eine bundesweite Demonstration gegen den NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Die Resonanz darauf war jedoch gering; dieser imperialistische Krieg war ein Monat vor unserer Demo für beendet erklärt worden. Inhaltlich hatten wir uns dabei jedoch an ein Thema herangewagt, das innerhalb des autonom-antifaschistischen Koordinatensystems zu diesem Zeitpunkt eine eher untergeordnete Rolle spielte und deshalb aus unserer Sicht in „erneuernder“, modifizierter Weise kontrapunktisch aufbereitet werden musste. Wir wollten uns vom unseres Erachtens „steckengebliebenen“ Antiimperialismus abheben, der nicht über das bewegungseinschränkende Verharren in blockkonfrontativen Argumentationsmustern hinausgekommen war. Danach widmeten wir uns wieder anderen Dingen.

Zentren-Demo der AIHD am 12. Februar 2000 (Zeitungsfoto)

 

AIB: Ihr habt gerade die AA/BO angesprochen. Wart ihr so zügig Mitglied geworden?

AIHD: Wie gesagt, die Aufnahme fand kurz nach unserer Gruppengründung statt. Die Autonome Antifa Heidelberg war schon Mitglied in diesem seit 1992 existierenden Zusammenschluss gewesen. Da lag es nahe, jene Gruppe, welche die andere gewissermaßen ersetzt und personell um ein Vielfaches erweitert hatte, gleich mit in diese Organisation zu holen. Die AIHD hatte sich ja unter den politischen Vorzeichen konstituiert, Mitglied einer bundesweit aufgestellten, verbindlichen Struktur zu werden. Die AA/BO bot sich perfekt an.

Das, was wir in der Antwort auf die erste Frage unter dem Stichwort „Aufhebungsperspektivische Ausrichtung“ zusammengefasst haben, fokussiert vornehmlich auf unser kämpferisches, antagonistisches Verhältnis zum uns umgebenden bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftssystem. Diesem ist involutionär immanent, dass es sich krisenbewältigungsstrategisch optional für den oder: einen Faschismus entscheiden oder sich zum oder: zu einem Faschismus hin entwickeln (lassen) kann. Vor allem dann, und hiermit hatten wir es im Falle der seit zehn Jahren sehr groß gewordenen, „alternativlosen“ BRD zu tun, wenn nach der Befreiung nicht nur keine Entnazifizierung stattgefunden hatte, sondern nazistische Kontinuitätslinien, Parteistrukturen, Kampfverbände, Vereine, Organisationen, Wehrsportgruppen, Theoriezirkel, Seilschaften, Schulungszentren, Geschichtsklitterung, Medienhäuser, Verlage staatlich subventioniert oder aber doch nicht energisch genug bekämpft wurden. Die bundesrepublikanische Nachkriegs-Restauration hatte – zusammen mit dem übriggebliebenen NS-Staat-Personal – die so genannte wehrhafte Demokratie aus der Taufe gehoben. Bevor wir uns also revolutionär um den nationalliberalen Wettbewerbsstaat kümmern konnten, in welchem der Faschismus als seine extremste, seine terroristischste Herrschaftsform „wurzelte“, mussten wir hier und heute radikal „entnazifizieren“ – auch unter nachholenden Aspekten. Nur so konnten wir kategorisch sichergehen, dass sich Auschwitz nicht wiederhole. Der für uns unumstößliche Gültigkeit besitzende Schwur von Buchenwald ging aber noch weiter und verlangte in dieser programmatischen Ausdehnung grundlegende Transformationen: Es reichte nicht ganz aus, den Faschismus auf allen Ebenen und mit allen Mitteln zu attackieren; er musste „mit seinen Wurzeln“ vernichtet werden. Und das war eben das bürgerlich-kapitalistische Akkumulationsregime. Die AIHD und die Gruppen der AA/BO waren also: revolutionäre Antifaschist*innen, die staatlich unabhängig und militant im emanzipatorischen Sinne agierten.

AIB: Verstehen wir euch richtig? Eurer Einschätzung nach bezog sich „Autonom“ doch auf den historischen Rekurs, die Organisationsform, die politisch-theoretische Kalibrierung, das Betätigungsfeld, die Aktionsform der damit adjektivierten Gruppierungen, oder? Und was war dann mit dem Aspekt, von staatlich-institutioneller Beeinflussung, Infiltrierung, Integration, Förderung, Bevorzugung, Vereinnahmung unabhängig zu sein – sowohl in diskursiver als auch in praktischer oder gar finanzieller Hinsicht?

AIHD: Auch das wollten oder mussten wir selbstverständlich sein, das eine ließ sich vom anderen nicht wirklich trennen. „Wehrhaftigkeit“ der Demokratie hieß in der wiederbewaffneten BRD ja eben nicht, den Staat und die Gesellschaft vor dem Faschismus zu schützen; im Gegenteil: Die freiheitliche demokratische Grund-Ordnung musste davor bewahrt werden, grund-legend verändert zu werden – von links! Und dabei halfen die alten NS-Staats-Täter*innen und -Kollaborateur*innen selbstverständlich gerne.

Der Staat als Verdichtung regulativer Machtkomponenten war also im doppelten Sinne der politische Feind, mit dem nicht zusammengearbeitet, der nur „draußen“ gelassen werden konnte: Das eine Mal, weil er nachweislich keine Entnazifizierung durchgeführt hatte; das andere Mal, weil er als föderalistische Repräsentativdemokratie fortwährend zuließ, optional nach dem Faschismus „zu greifen“. Mit solch einem Staat wollten wir nichts zu tun haben. Gar nichts.

Und er ja auch nichts mit uns: Exekutiv, judikativ und legislativ im Repressionsmodus gesichert, bildete zwar die wissenschaftlich haltlose Extremismustheorie, derzufolge eine „Demokratie“ von den politischen Kräften des äußersten linken und rechten Randes zermalmt werden könne, das hufeisenförmige Grundgerüst der republikanischen Verfassungsarchitektur. Im Kern ging es der ins westliche Militärbündnis eingegliederten BRD aber vornehmlich darum, ihre soziale oder besser: liberale Marktwirtschaft bis an die Zähne bewaffnet zu verteidigen. Bevorzugt gegen Personen, Stadtguerillagruppen, Zusammenschlüsse, Vereinigungen, Bewegungen, Parteien, die emanzipatorisch einen grundlegenden Wandel der Verhältnisse herbeiführen wollten. Die seit den 1980er Jahren als solche wahrnehmbaren autonomen Antifaschist*innen, auf die wir positiv rekurrieren, wurden auf jeden Fall diesem „verfassungsfeindlichen“ oder „verfassungswidrigen“ Milieu subsumiert und dementsprechend kriminalisiert. Die Folge davon war, dass der Staat nach der so genannten Wende Gruppen aus diesem Milieu zu terroristischen Vereinigungen erklärte und folglich nach § 129a ermittelte. Das waren Gruppen, mit denen die AIHD bis zu deren Auflösungen zusammengearbeitet hat.

Trotz alledem war uns natürlich klar, das war offensichtlich: Wir lebten, wir agierten nicht im Faschismus, auch wenn sich alles dorthin entwickeln könnte …

AIB: Und warum seid ihr dann gerade im Jahre 2000 an diesem Punkt, also dem „Unvereinbarkeitsbeschluss“ zwischen Staat und Autonomer Antifa, ins Hadern gekommen?

AIHD: Wir hatten es in der BRD ja durchgängig mit neonazistischen, mit rassistischen, mit antisemitischen Anschlägen zu tun. Ein staatliches Gefüge, das trotz oberflächlich anderslautender Programmatiken seinen massiv hochgerüsteten Repressionsapparat nicht oder nur ungenügend in Anschlag bringt gegen faschistische Kräfte, Zusammenrottungen, Bewegungen, Interessengruppen oder Parteien, der lädt die gewalttätigen, von Waffen und Sprengstoff begeisterten Teile dieses über die ganze BRD verstreuten antidemokratischen Spektrums quasi dazu ein, das in seinen Augen „republikanische Zwischenspiel“ schnellstmöglich wieder zu beenden oder zumindest sehr stark in die autoritäre Formierung zu drängen. Am besten funktioniert dies über Terror, Einschüchterung, Bedrohung, Verängstigung, Mord. Höhepunkt dieser Demonstration von Stärke ist sicher das neonazistische Oktoberfest-Attentat vom 26. September 1980.

Die Frage ist unaufhörlich jene nach der staatlich-institutionellen und zivilgesellschaftlichen Sensibilisierung. Welche Anschläge, Körperverletzungen, Morde werden überhaupt als „rechts“ oder „faschistisch“ eingestuft und von wem, von welcher Stelle? In welchem Intensitätsgrad werden die daran gebundenen Analysen diskursiv wie aufbereitet? Und wer reagiert dann wie, wobei da durchaus die polizeitaktische Trinitas aus Prävention, Reaktion und Präemption ins Spiel gebracht werden kann?!

Zehn Tage vor dem zum zweiten Mal von uns verantworteten Antifaschistischen Straßenfest verübten drei Neonazis einen Brandanschlag auf die Synagoge in Erfurt. Am 14. Juni 2000 starb Alberto Adriano, nachdem er aus rassistischen Motiven von drei Neonazis in Dessau brutal zusammengeschlagen worden war. Am 27. Juli 2000 explodierte am S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf eine Rohrbombe, die zehn Menschen lebensgefährlich verletzte. Nach diesen drei Taten innerhalb von drei Monaten verkündete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den „Aufstand der Anständigen“; und nach dem Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf am 2. Oktober 2000 sagte er nach dem „Tag der Deutschen Einheit“ wörtlich: »Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen, wegschauen ist nicht mehr erlaubt.« Außerdem müsse mensch ein „Maß an Zivilcourage entwickeln“, damit „Täter nicht nur kriminalisiert, sondern auch gesellschaftlich isoliert würden“.

AIB: Nahm der Staat euch nun eure „zivilgesellschaftliche Arbeit“ ab?

AIHD: Nun, das Gerede von der „Staats-Antifa“ war plötzlich in aller Munde. Und uns autonomen Antifa-Gruppen war sowieso schon seit längerem der Vorwurf gemacht worden, wir betrieben – an den zuständigen Ermittlungsbehörden vorbei – Selbstjustiz, Deutungshoheitspolitik, Verfassungsbruch und Demokratiezersetzung – auch mit dem Ziel, die BRD vorzuführen, zu demaskieren: »Seht her, hier sind wir, und mit jeder militanten Aktion gegen Nazis machen wir euch deutlich, dass ihr nichts unternehmt, wegschaut, eher noch fördert.«

Und plötzlich „sagte“ der höchste Repräsentant dieses mächtigen Staates, dieser „materiellen Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“: »Jetzt nehmen wir das antifaschistische Ruder selbst in die Hand! Wir räumen auf. Wir stehen auf.«

Wir können uns noch sehr gut an die Zeiten des Schröderschen Imperativs erinnern, zumal er bei „uns“, besser gesagt im Rhein-Neckar-Dreieck, schon ein paar Tage vor seiner offiziellen Ausrufung „befolgt“ werden sollte – nämlich in Ludwigshafen.

AIB: Warum gerade Ludwigshafen? Und was hatte Ludwigshafen mit Heidelberg zu tun?

AIHD: Mit Rhein-Neckar-Dreieck bezeichnet mensch den Ballungsraum um die südwestdeutschen Großstädte Heidelberg, Mannheim und: Ludwigshafen. LU gehört zwar schon zu Rheinland-Pfalz, ist aber wirklich nicht allzu weit von Heidelberg entfernt. Und in LU gab es schon immer eine große, gut organisierte, militante Neonazi-Szene, mit der wir stets unsere handgreiflichen Probleme hatten.

Am 16. Juli 2000 verübten mindestens vier Faschisten aus überregional vernetzten Stahlhelm- und Kurpfalzfront-Strukturen einen Brandanschlag auf eine Geflüchteten-Unterkunft in LU-Oppau, indem sie Molotow-Cocktails ins Gebäude warfen. Dabei wurden mehrere Menschen schwer verletzt. Die AIHD reagierte sofort. Zusammen mit dem damals noch existierenden Antifaschistischen Aktionsbündnis Rhein-Neckar (AARN) zogen wir noch am selben Tag in einer Spontandemonstration unter dem Motto „Gegen Nazi-Strukturen und rechte Gewalt“ mit über 300 Menschen durch LU. Am Samstag darauf wollten wir dann eine bundesweite Antifa-Demo durch LU ziehen lassen.

Prozessauftakt gegen die Brandstifter am 30. Oktober 2000 in Frankenthal
AIB: Das klingt alles noch sehr nach „klassischer“, eher reaktiver Antifa-Arbeit. Vom staatlich verordneten „Anstands-Aufstand“ noch keine Spur.
AIHD: Richtig. Noch war es „typischer“ autonomer Antifaschismus, der hier angesetzt wurde: Wir analysierten einen bereits geschehenen Vorfall, entlarvten ihn als neonazistisch-rassistischen Brandanschlag, ordneten ihn einem politischen Milieu zu, planten die nächsten Schritte, koordinierten uns, klopften „unsere“ staats- und parteiunabhängigen Bündnisse und Organisationen ab, stimmten die unterschiedlichen Aktionsmöglichkeiten ab, schrieben Pressemitteilungen und druckten Flugblätter. Wir bündelten unsere antifaschistischen Kräfte und organisierten schließlich die Demo am 22. Juli 2000, die dann durchgeführt und in den Tagen darauf szeneintern nachbesprochen werden sollte.

Und dann kamen die „Anständigen“, obwohl sie da offiziell noch gar nicht so hießen.

Für uns unerwarteterweise ging in der Woche zwischen dem Anschlag und der Antifa-Demo ein heftiger Ruck durch die bürgerliche Parteienlandschaft und Zivilgesellschaft. Den Schröderschen Appell vorwegnehmend, in dessen Folge „Aktionspläne“ entworfen und staatliche Programme zur organisatorischen und finanziellen Unterstützung von Initiativen gegen „Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ entwickelt wurden, hingen sich auf einmal SPD, FDP, CDU, die Grünen, die FWG LU, die Kirchen, parteiendominierte Bürger*inneninitiativen, korporatistische Gewerkschaften dran, kaperten „unsere“ Demo und versahen sie mit dem oberflächlichen Motto: „Gegen Ausländerhass“. Wir befanden uns mitten im „Staats-Antifa-Sommer“.

AIB: Habt ihr dann nicht mehr zur Demo mobilisiert, die ja von euch schon gegen die Nazi-Strukturen vor Ort und die ganze rechte Gewalt ausgerufen worden war?

AIHD: Das hätte eigentlich die Konsequenz sein müssen. Wir entschieden uns dann aber dafür, innerhalb des bürgerlichen Aufzugs einen sichtbar separierten, starken eigenen Block zu bilden und unsere Inhalte von dort aus massiv nach außen zu tragen. Das hat dann am Tag der Demo selbst so gut funktioniert, dass wir radikal linken Antif@s diese nicht nur prägten, sondern komplett vereinnahmten – personell und von der Außenwirkung her. Unser riesiger Block wurde angeleitet von einem Transparent mit der Aufschrift: »Rassismus tötet – Leistet Widerstand gegen Volk und Nation.« Vor dieser Demo hatte sich bereits herumgesprochen, dass das rot-gelbe „Kabinett Beck II“ den Staatssekretär im Mainzer Innenministerium, Ernst Theilen (SPD), nach LU entsenden wolle, um ihn dort auf der Abschlusskundgebung eine Rede halten zu lassen. Theilens Oberster Dienstherr war zu diesem Zeitpunkt der berüchtigte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD).

Demonstration am 22. Juli 2000 in Ludwigshafen (Zeitungsfoto)
AIB: Was passierte dann?
AIHD: Nun, seine Rede hat Theilen, der tatsächlich angereist war, nicht halten können, weil wir, nachdem er auf die erhöhte Bühne geklettert war, ebendiese antifaschistisch enterten und mehrere große Transparente entfalteten. Dabei wurde in Sprechchören unablässig skandiert: „Nazis morden, der Staat schiebt ab, das ist das gleiche Rassistenpack.“ Schließlich musste die Veranstaltung abgebrochen werden, Theilen hatte umsonst einen Text vorbereitet. Nach diesem Debakel gab er in Interviews an: »Wir müssen überlegen, wie wir mit derartigem Chaotentum, von links oder rechts, fertig werden.« Und damit keine Missverständnisse bei den Rezipient*innen dieser extremismustheoretischen Präemption aufkommen, wer mit „wir“ gemeint sein könne, schob er in bester soziologischer Fundierung nach, dass dabei – also beim „Fertigwerden“ mit den linken und rechten Chaot*innen – die „gesamte Gesellschaft gefordert“ sei: »Von den Eliten bis zur Arbeitsmarktpolitik.« Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
In den folgenden Monaten beendete die AIHD ihre antifaschistischen Flugblätter und Pressemitteilungen oftmals mit der folgenden Parole:

„An den Anstand der Aufständischen: Gegen staatlichen Rassismus und faschistischen Terror – Antifaschismus muss praktisch werden.”

Die AIHD gibt es heute noch, der „Aufstand der Anständigen“ ist längst Geschichte.

Juli 2020
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