1992 revisited
Erinnert sich eigentlich noch jemand an 1992? Die selben, die kurz zuvor noch gerufen hatten: „Die Mauer muss weg!“, forderten nun schärfere Grenzkontrollen, Abschiebungen und den Kampf gegen die Invasion der „Hungerleider“. Aus „Wir sind das Volk“ wurde sehr schnell „Wir sind ein Volk“ und daraus wiederum „Deutschland den Deutschen“. Brandsätze und Pogrome gegen Flüchtlingsheime wie in Hoyerswerda oder Mannheim-Schönau folgten. Bei den massivsten rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen trat Norbert Weidner als „Pressesprecher“ der Nazis vor die Kameras. Weidner war V-Mann des Verfassungsschutzes und machte später als Sprecher der völkischen „Deutschen Burschenschaft“ Furore.
Die Politik goss eifrig Öl ins Feuer, um darauf ihr eigenes Süppchen zu kochen. Die mordenden und randalierenden Nazis wurden zu „verunsicherten Bürgern“ geadelt, deren Anliegen („Ausländer raus!“) es ernst zu nehmen gelte. Noch während die Flüchtlingsunterkünfte in Lichtenhagen brannten, änderte die SPD ihre Position zum Grundrecht auf Asyl. Am 6. Dezember 1992 beschloss der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP und SPD den sogenannten Asylkompromiss. Durch die Änderung des Grundgesetzes (jetzt Art. 16a GG) und des Asylverfahrensgesetzes wurden die Möglichkeiten eingeschränkt, sich überhaupt auf das Grundrecht auf Asyl zu berufen. Die Grünen sprachen damals noch – völlig korrekt – von einer faktischen Abschaffung des Grundrechts. Das hinderte sie freilich nicht daran, diese Grundrechtsdemontage künftig entschlossen selbst zu vertreten.
Nachdem der Aufbau von militanten Nazistrukturen durch den Staat geduldet und vom Inlandsgeheimdienst mit dem zynischen Namen „Verfassungsschutz“ massiv gefördert worden war, schien es einige Jahre später an der Zeit, den gewollten und gesteuerten Volkszorn zu zügeln und auf sein eigentliches – ökonomisches – Ziel zurückzuführen. Bundeskanzler Schröder (SPD) sorgte sich um das Ansehen der deutschen Wirtschaft im Ausland und rief in Bezugnahme auf deutsche Sekundärtugenden im Jahr 2000 zum „Aufstand der Anständigen“ auf. Zur selben Zeit brachte der bayerische Innenminister Günther Beckstein den wirtschaftlichen Sinn der rassistischen Mobilisierung in Erinnerung: „Wir brauchen weniger Ausländer, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen.“ Zwei Seiten der selben hässlichen Medaille…
Sie kommen immer wieder …
Zwanzig Jahre nach den Pogromen von Rostock und Mannheim-Schönau und der Abschottung Deutschlands gegen ungeliebte Migrant*innen befinden sich so viele Menschen weltweit auf der Flucht wie noch nie seit 1945. Verantwortlich dafür sind nicht zuletzt der von der neu erstarkten Großmacht Deutschland massiv verstärkte innerkapitalistische Konkurrenzkampf und die „Weltordnungskriege“ des Westens – von der Zerstörung Jugoslawiens über den Irak bis hin zu Syrien. Die EU-Grenzen sind zur Festung Europa ausgebaut, die quasi-militärische Flüchtlingsabwehr Frontex hat das Mittelmeer in ein Massengrab verwandelt. Seit der Wiedervereinigung sind weit über 25.000 Flüchtlinge bei dem Versuch umgekommen, die EU-Außengrenzen zu überwinden.
Und obwohl Deutschland weiterhin die hauptsächliche Last des lästigen und blutigen Abschiebegeschäfts den „Arme-Schlucker“-Ländern im Süden und Osten überlässt und ohnehin nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge Europa überhaupt erreicht, werden wieder die Stimmen laut, die die „Habenichtse“ loswerden wollen.
Die Tiraden des SPD-Mitglieds und ehemaligen Bundesbankers Thilo Sarrazin haben den Startschuss geliefert. Im Jahr 2009 forderte er das „Auswachsen“ von „etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden“. Kaum zu erwähnen, dass er die „ökonomisch Unnützen“ in erster Linie bei den Migrant*innen verortet, deren Anteil an der Bevölkerung er zum Wohl verwertungslogistisch durchzogener Wirtschaftlichkeit dezimieren möchte. Anders als zwanzig Jahre zuvor präsentierte sich die rassistische Mobilisierung von Anfang an als Bündnis aus Elite und Mob. Thilo Sarrazin blieb nicht der letzte Akademiker, der mit seinen xenophoben Ausführungen die Talkshows und Feuilletons füllen durfte. Die antimuslimische Hetze wurde von verschiedenen Seiten befeuert. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei auch die gezielt geschürte Terrorhysterie, die seit den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 der Innenpolitik als Vorwand dient, Grundrechte auszuhöhlen und den Ausbau des Überwachungsstaates voranzutreiben. Die Untersuchung der Vorgänge um die 2011 aufgeflogene Terrorgruppe, die unter dem Namen NSU bekanntgeworden ist, offenbarte Stück für Stück, wie stark der bundesdeutsche Inlandsgeheimdienst in den Aufbau, die Finanzierung und das Decken des nazistischen Terrors involviert war.
Hogesa, Pegida und Co. – same brown shit
2014 zog zum ersten Mal die rechte AfD ins Europaparlament ein – ein Sammelbecken für Burschenschafter, enttäuschte Anhänger*innen rechter Kleinparteien und Wirtschaftsvertreter*innen, die verstärkt auf die nationale Karte setzen. Auch die rassistische Straßenmobilisierung erreichte in diesem Jahr einen ungeahnten Höhepunkt. Ein Gebräu aus Islamhasser*innen, Nazis, fundamentalistischen Deutschtümler*innen ging in wechselnder Zusammensetzung als PEGIDA, Hooligans gegen Salafismus oder ähnlichen irrwitzigen Namen an die Öffentlichkeit und konnte dabei viele tausend Menschen auf die Straßen bringen, die ihren fremdenfeindlichen Ressentiments freien Lauf ließen. Politiker*innen von den Grünen bis zur CSU beteuerten sofort, die „Sorgen und Nöte“ des Mobs ernst nehmen zu wollen: Aber was gab es da ernst zu nehmen? Keine*r der Dumpfdeutschen, die sich da auf den Straßen ihren Hass aus den Lungen schrien, hatte ernsthaft Angst vor „Islamisten“. Sie wollen sich systemkonform an denen abreagieren, die der Kapitalismus an den Rand gedrängt und als legitime Opfer präsentiert hat.
Die Dienstfertigkeit, mit der die bundesdeutschen Eliten die Anhänger*innen von Hogesa, Pegida und Co. umgarnen, zeigt weniger ein Erschrecken über das, was sich da Bahn bricht. Es signalisiert vielmehr, wie gelegen die rassistischen Eruptionen der Wirtschaft und der Politik wieder einmal kommen. Im vergangenen September wurde mit der Stimme des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ein neuer „Asylkompromiss“ im Schweinsgalopp durchgepeitscht. Dieses Mal geht es nicht mehr nur darum, den Betroffenen die Anerkennung des Rechts auf Asyl unmöglich zu machen – das schafft ohnehin kaum noch jemand -, sondern das Abschiebeverfahren rapide abzukürzen und die Berufung auf Rechtsstandards von vornherein unmöglich zu machen. So werden verbündete Staaten per definitionem zu Ländern erklärt, in denen es keine Fluchtgründe geben kann. Im Moment sind davon in ganz besonderem Maße Roma betroffen, die vor Ausgrenzung, Diskriminierung und Verelendung aus den Balkanstaaten zu uns fliehen.
„Weniger Ausländer, die uns ausnützen, mehr, die uns nützen“ – die Stunde der Kretschmänner
Die Rolle der ökonomischen Vernunft, die die all zu unschönen Auswüchse des Rassismus zügelt und in staats- und wirtschaftsverträgliche Bahnen lenkt, kommt dieses Mal den ewigen Modernisierern von den Grünen zu. Zeitgleich mit einer Neuauflage des „Aufstands der Anständigen“ bedient der grüne Ministerpräsident Kretschmann einen wirtschaftspolitischen Einwanderungspragmatismus, wie er auch von Günther Beckstein kommen könnte. Der Stuttgarter Zeitung sagte Kretschmann im Interview: „Wir brauchen eine Überarbeitung der Zuwanderungs- und Bleiberechtsregelungen, weil wir auf Fachkräfte dringend angewiesen sind. Wir sehen ja gerade bei Abschiebungen, dass Handwerker oder Gastronomen oft kein Verständnis dafür haben, wenn wir gut integrierte Menschen, die bei ihnen arbeiten, aus dem Land bringen müssen, nur weil das Asylrecht ihren Aufenthalt nicht erlaubt.“ Zu deutsch: Wer Profit bringt, bleibt, wer nicht, der fliegt.
Was ist also zu tun? Es ist legitim und notwendig, sich rassistischen und faschistischen Bewegungen in den Weg zu stellen – anders, als das die Pegida-Versteher*innen gern hätten, ganz praktisch und mit der gebotenen Militanz. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Menschenverachtung und dumpfer Rassismus unwidersprochen als eine akzeptierte Meinung unter vielen etablieren. Die Flüchtlinge brauchen unsere ganz konkrete Solidarität und Hilfe gegen die Abschiebemaschinerie. Die verhinderte Sammelabschiebung aus der Flüchtlingsunterkunft aus der Kirchheimer Hardtstraße am 25.02. dieses Jahres war ein starkes Signal und ein ermutigender Anfang.
Solidarität muss praktisch werden
Aber all diese Aktivitäten bleiben letztlich hilflos, wenn wir nicht zugleich ein System angreifen, das Menschen nur nach ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit kategorisiert und behandelt. Es geht nicht nur um die stumpfen Rassefanatiker*innen – mögen sie nun Anzug und Burschenband tragen, Vokuhila und Schnauzbart oder Bomberjacke und Springerstiefel. Es geht ebenso sehr um die pragmatischen und flexibel agierenden Einwanderungs- und Abschiebemanager vom Schlage eines Winfried Kretschmann oder eines Reinhold Gall (SPD-Innenminister von Baden-Württemberg).
Den Nazis und den Abschiebebehörden in den Arm zu fallen, ist eine Sache. Die Bekämpfung des Kapitalismus, der auf Ausbeutung, Spaltung und Selektion basiert, ist eine weit größere Aufgabe. Und trotzdem gibt es dafür immer wieder Ansatzpunkte: In der kritischen Solidarität mit den linken Bewegungen, die sich gegen deutsche Vorherrschaft und das Spardiktat der Troika wehren, in der alltäglichen Sabotage des kapitalistischen Normalbetriebs, im Kampf gegen staatliche Repression oder im Widerstand gegen deutsche imperiale Politik und Kriegseinsätze.
Streuen wir Sand ins Getriebe!
Solidarität muss praktisch werden – Feuer und Flamme den Abschiebebehörden!
Unsere Solidarität kennt weder Staaten noch Grenzen!