Der mediale Aufschrei, der dem Mord an einem wehrlosen Menschen in psychischer Notsituation durch die Mannheimer Polizei folgte, war groß. Polizeigewalt trendete auf Twitter und in vielen Städten wurde zu Demonstrationen aufgerufen. Nicht wenige waren überrascht, wie viele verschiedene Menschen in kurzer Zeit auf den Straßen waren. Ein Rückblick ist deshalb umso nötiger. Denn um Polizeigewalt effektiv zu bekämpfen und weitere „Einzelfälle“ zu verhindern, müssen wir genau hinsehen und uns fragen, wie wir Kämpfe verbinden können, ohne unsere Positionen aufzugeben.
Das Thema Polizeigewalt bringt in der BRD eher selten besonders viele Menschen auf die Straße, da ein größerer Teil der Bevölkerung sie nicht erlebt und sich meistens nicht solidarisch mit den Betroffenen zeigt. Aus Sicht vieler Menschen ist gewaltvoller Polizeikontakt lediglich Verbrecher*innen vorbehalten. Eine weit verbreitete Einstellung ist, dass diejenigen, die Polizeigewalt erleben, sich wahrscheinlich falsch verhalten haben und in der Rechtfertigungspflicht sind. Denn – so die Logik – nur wer sich falsch verhalten hat, wird von Polizist*innen schlecht behandelt. Rassismus und andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten werden dabei genau wie polizeiliche Willkür vollständig ausgeblendet. Stattdessen muss ein Fehlverhalten der Polizei erstmal bewiesen werden und wird teilweise selbst bei klaren Beweisen nur unter Vorbehalten eingeräumt. Diese Einstellungen sind nicht zufällig entstanden und das darunterliegende Narrativ wird vor allem staatlich gefördert. Diesem gilt es anhand der Widersprüche, die im kapitalistischen System entstehen, etwas entgegenzuhalten.
Bei dokumentierten Fällen besonders brutaler Polizeieinsätze wird im gesellschaftlichen Diskurs der Widerspruch, dass „sicherheitsbeauftragte“ Personen – also die angeblich „Guten“ – quälen und töten, verschieden behandelt. Bei vielen wird er anhand der oben beschriebenen Einstellungen durch eine Schuldzuweisung an die betroffenen Personen aufgelöst. Unter anderem in den USA wird dies auch medial unterstützt, wenn nachträglich Kriminalakten veröffentlicht werden. Die im Internet kursierenden Verbrechen, die beispielsweise George Floyd begangen haben soll, hatten den Zweck, den Getöteten öffentlichkeitswirksam zu diskreditieren, den Mord zu relativieren und so das Narrativ wieder gerade zu rücken, sodass die Cops letztlich doch die „Guten“ sind, da sie einen gefährlichen Verbrecher unschädlich gemacht haben. Medial wird auch hierzulande bei dokumentierter Polizeigewalt gerne auf einen vermeintlich fehlenden Kontext von Videos hingewiesen. Leider verbirgt sich hinter diesem Argument meistens kein Wunsch nach Aufklärung, sondern die Hoffnung, dass irgendeine vorhergegangene Handlung der betroffenen Person gefunden werden kann, um das Handeln der Polizei zu rechtfertigen. Besonders bei tödlicher Gewalt ist diese versuchte Täter-Opfer-Umkehr perfide und für Hinterbliebene zusätzlich belastend. In vielen dieser Argumentationsmuster fallen reaktionäre, rechte und staatstragende Positionen und Interessen zusammen. Möglicherweise ist einigen Menschen nicht einmal bewusst, wie ihre Einstellungen letztlich Polizeigewalt legitimieren und Aufklärung verhindern. Die Polizei selbst, die an grundlegender Aufklärung und angemessenen Konsequenzen kein Interesse hat, freut sich über diese Schützenhilfe. Nicht zuletzt wird das polizeiliche Narrativ durch eine reichweitenstarke und eigenmächtige Internetpräsenz propagiert (siehe hierfür die Twitter-Analyse von Netzpolitik: https://netzpolitik.org/polizeitwitter/) und findet auch durch unkritische Medienschaffende ein großes Echo. Im politschen Kontext gibt es oft Versuche der Polizei, die Deutungshoheit durch das Abdrängen von unabhängigen Pressearbeiter*innen zu gewinnen und so zur einzigen Informationsquelle zu werden.
Manchmal funktionierten gängige Strategien aber nicht so umfassend, wie sich die Exekutive das wünscht. Dass dies so sein würde, war nach dem Mord am 2. Mai in Mannheim vor allem aufgrund der zahlreichen Videos naheliegend, ohne die der Fall – so zynisch das klingen mag – nicht so viel Aufmerksamkeit erfahren hätte. Die verstörenden Bilder der Beamten, die einen Menschen in einer psychischen Notsituation verfolgen, mit Reizgas angreifen, überwältigen, fesseln und letztlich totschlagen, ließen wenig Spielraum zur Relativierung. Auch die Diskreditierung war keine günstige Option, da der Mensch als Patient eigentlich Hilfe gebraucht hätte. Die „Gegenwehr“, die ihm vorgeworfen wird, konnte selbst im polizeilichen Narrativ nur schwer für die Rechtfertigung des Mordes genutzt werden. Es ist maßgeblich dieser nicht auflösbare Widerspruch, der bei so vielen Menschen Empörung hervorruft und somit ein breiteres politisches Spektrum im Internet und auf der Straße aktiviert. In der Mobilisierung treffen dann wahrscheinlich eigentlich unvereinbare Positionen aufeinander: einige stellen die Polizei als politische Institution grundlegend infrage, andere wollen lediglich eine Rückkehr zu einem zweifelhaften „Normalzustand“, womit gemeint ist, dass Polizist*innen wieder die „Guten“ werden sollen. Die gängige (und irreführende) bürgerliche Position, dass die Polizei wieder „ihren Job machen“ und die, die sich falsch verhalten haben, aussortieren soll, müssen wir in der Bearbeitung dieses Themas beachten und mit Gegendarstellungen konfrontieren, in denen klar wird, dass das, was in Mannheim am 2. Mai geschehen ist, Teil genau dieses „Jobs“ ist. Übergriffe, Schikane, und Gewalt – all das ist schlichtweg Teil der Polizeiarbeit. Wer sie erfährt, entscheiden die Beamt*innen, die diese Arbeit leisten. Zur Verantwortung gezogen werden die wenigsten von ihnen, stattdessen schützen sich Cops gegenseitig.
Im Rückblick auf die Proteste gegen und den Diskurs über Polizeigewalt müssen wir davon ausgehen, dass ein nicht geringer „mobilisierter“ Teil will, dass das unreflektierte Vertrauen in die Polizei wiederhergestellt wird. Lippenbekenntnisse und medienwirksam inszenierte Betroffenheit der Cops gehen dementsprechend für einige schon in die richtige Richtung und wirken beschwichtigend. Ob die Wiederherstellung des Narrativs der „Held*innen in Uniform“ letztlich auf weitere Kosten der Glaubwürdigkeit einer bereits geschädigten oder gar toten Person geschieht, ist für sie dabei unerheblich. Dementsprechend erklärte der Mannheimer Polizei-Präsident Siegfried Kollmar: „Wir werden einige Wochen und Monate brauchen, bis wir Vertrauen zurückgewonnen haben. Unsere Bemühungen haben einen Knacks bekommen.“ Dass Kollmar den Mord an einem wehrlosen Menschen in Notlage als einen kleinen Image-Schaden darstellt, den es auszusitzen gilt, offenbart seine Prioritäten. Der Fall zeigte auch innerpolizeiliche Konflikte auf: Der Vorsitzende der reaktionären „Gewerkschaft der Polizei“ (GdP) Thomas Mohr kritisierte, dass durch Äußerungen Kollmars der Eindruck entstanden sei, die Beamten seien schuldig; Mohr sprach den beiden Beamten auch gleich volle Unterstützung durch spezialisierte Anwälte zu. Die baden-württembergische Polizeipräsidentin Stefanie Hinz kommentierte den tödlichen Polizeieinsatz unterdessen mit den Worten „unmittelbarer Zwang sieht nie schön aus“. Worin die Problematik für die Polizeiführungen also besteht, wird deutlich: Das größte Problem ist aus Sicht der Polizei, dass der Fall überhaupt öffentlich bzw. gesellschaftlich verhandelt wird und Menschen es sich erlauben, Polizist*innen für ihre Taten verantwortlich zu machen. Für uns bedeutet das, das „Einzelfall“-Narrativ weiter und immer wieder anzugreifen. Insgesamt müssen wir die Polizei als parteiische Institution weiterhin kritisieren und ihre medienwirksame Inszenierung als Freund*innen und Helfer*innen diskreditieren. Wenn die offene Kritik an einer staatlichen Institution mittlerweile als Anlass ausreicht, komplette Demonstrationszüge abzufilmen, zeigt das für uns, dass wir genau das weiterhin und umso lauter tun müssen.
Wir müssen aber ebenso aufhören, gewalttätige Polizeieinsätze abzufeiern, wenn die Gewalt „die Richtigen“ (z.B. Faschist*innen, Querdenker*innen, …) trifft. Natürlich meinen wir damit nicht, dass wir unsere Solidarität beliebig ausweiten oder staatliche Gewalt gegen Nazis offen kritisieren müssen. Vielmehr muss uns klar sein, dass der Knüppel, der heute auf den Nazi zeigt, am nächsten Tag uns treffen kann. Legitimation, Akzeptanz und medialer Zuspruch sind Ressourcen, die die Polizei als politische Waffe in den nächsten Einsatz mit nimmt.
Wir müssen daher klar aufzeigen, welche Aufgabe die Polizei im kapitalistischen Staat hat und dass das Überwältigen, Verletzen und Töten von Menschen schlichtweg zu genau diesen Aufgaben gehört. Die Polizei schützt die Interessen und Ordnung der herrschenden Klasse und steht damit zwischen uns und der Überwindung des Kapitalismus. Kritik an der Polizei und anderen staatlichen Institutionen muss weiterhin fester Teil unserer politischen Arbeit und Äußerungen sein. Damit einhergehend muss Polizeigewalt auch dann thematisiert werden, wenn es keinen „viral gegangenen“ Vorfall gab. Wenn wir auf die mediale Aufarbeitung und Verbreitung angeblicher „Einzelfälle“ warten, sind wir auf ein Interesse seitens Medienschaffender angewiesen und werden immer nur auf dokumentierte Fälle reagieren können. Ebenso werden weniger extreme Fälle weniger Beachtung finden oder gar nicht thematisiert, obwohl sie Teil des Problems sind. Dass Polizeigewalt viel öfter ungesehen bleibt, zeigt die Unzulänglichkeit eines Nacharbeitens. Darüber hinaus müssen wir Repression als Teil politischer Polizeiarbeit betrachten und dieser dementsprechend begegnen: solidarisch, entschlossen und gemeinschaftlich.
Der Obduktionsbericht, der die Polizei entlasten soll, steht noch aus. Aus Erfahrung aus anderen Fällen gehen wir davon aus, dass eine Herzschwäche als Todesursache vorgebracht werden wird. Die Lügen, Beschwichtigungen und Relativierungen, die damit einhergehen, werden wir nicht akzeptieren! Wir bleiben wütend und unversöhnlich! Kein Frieden ohne Gerechtigkeit!